Kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag wollten Anja und ich unser erstes eigenes Haus beziehen. Es war eine überaus spannende Zeit für mich. Als Drehbuchautorin steckte ich mitten in einem großen Auftrag, der mich sieben Tage in der Woche beschäftigte. Trotz langer Arbeitstage lag ich nachts wach vor lauter Vorfreude darauf, künftig nicht mehr dem Geschmack eines Vermieters ausgeliefert zu sein, der einen Hang zu bräunlichen Kacheln hatte. Zudem waren unsere diversen Vermieter der letzten zehn Jahre allesamt Angehörige des selben sparsamen Stammes und bei den Kacheln handelte es sich grundsätzlich um B-Ware, die noch in der Grabbelecke farblich durchgefallen war. Andächtig vertieften Anja und ich uns zwischen unzähligen Hausbesichtigungen in Architekturzeitschriften und hätten am liebsten ein Schlösschen oder wenigstens eine Gründerzeitfabrik unter unsere völlig unerfahrenen Fittiche genommen. Ein Jahr lang besichtigten wir Hundehütten inmitten von Industriebrachen, ließen uns durch Abrissverdächtiges zum Preis einer Jugendstilvilla führen.
Wir lernten die Maklersprache. Wir entwarfen kühne Einrichtungspläne bis hin zur Entlüftung des Schwimmbades, welches wir im Keller einbauen würden, sollte die Statik der Dachterrasse einen solchen Aufbau nicht mitmachen. Die Gartenanlage, Englisch oder Feng Shui, würden wir uns im zweiten Jahr vornehmen. Geld spielte keine Rolle, wir hatten sowieso keines. Schließlich fanden wir ein Haus, welches mich vom ersten Moment an magisch anzog. Der verwilderte Garten, der helle Eingangsbereich, das alte Parkett, die großen Fenster in jedem Zimmer, alles gefiel mir auf Anhieb. Die Innenausstattung war hoffnungslos veraltet, so dass wir einen Teil unserer Phantasien nicht nur würden umsetzen dürfen, sondern müssen. Der einzige Haken schien zu sein, dass das Haus für unseren Bedarf ein Zimmer zu wenig hatte. Also planten wir, bis uns der Kopf rauchte, und entschlossen uns schließlich trotz des fehlenden Zimmers zum Kauf. Ich handelte einen fairen Preis aus. Alles lief wie geschmiert. Am Tag vor der Unterzeichnung des Kaufvertrages passierte das, was wir Drehbuchautoren einen ‚plot-point’ nennen, eine Wendung der Handlung, die alles verändert.
Über der ersten Tasse Morgenkaffee sprach Anja aus, was ich am allerwenigsten hören wollte, und schon gar nicht in dieser Situation. Sie hatte sich in jemand anders verliebt. Ich hatte schon länger so eine Ahnung, aber gehofft, dass unser gemeinsames Projekt uns wieder enger zusammen bringen würde. Ich hatte mich geirrt. Jetzt war es zu spät um umzukehren. Also kaufte ich das Haus ohne sie und begann mit der Sanierung. Geld war jetzt natürlich noch knapper als vorher. Bei den größeren Arbeiten wie der Erneuerung der alten Heizungsanlage würde ich mich kaum nützlich machen können, daher wollte ich wenigstens die kleinen Handgriffe wie das Abreißen von zehn Schichten alter Tapete selbst ausführen. Mein Buchauftrag war kurz nach meinem privaten Debakel geplatzt, mit anderen Worten: Ich hatte mehr Kosten als vorher bei einem Einkommen, welches bei Null aufschlug. Das Gute war: Ich hatte absolut keine Zeit, mich darüber aufzuregen. Wer schon mal eine Baustelle betreut hat, weiß, wovon ich rede. Wenn ich abends in mein altes Zuhause kam, welches bald um die Hälfte der Einrichtung erleichtert war, war ich zu müde um zu weinen. Die Fußball-WM 2002 begann und ich genoss die kleinen Inseln des Nicht-Denkens und der hirnlosen Unterhaltung, wann immer ich es auf die Insel schaffte. Abends stellte ich mich dann wieder brav auf meine Haushaltsleiter und popelte Tapete. Und es war hier, genau in dem Zimmer, in dem ich jetzt schreibe, als ich innerlich eine Stimme ‚hörte’, die eindeutig nicht meine war.
Es war abends gegen zehn. Ich war gerade wieder auf meine Leiter geklettert und sprühte Spülmittel-schäumendes Wasser auf die dicke Tapetenschicht. Mit einem Mal spürte ich, dass jemand im Flur stand und mir zusah. Soweit nichts Ungewöhnliches, nur – ich war alleine in dem Haus. Es war kein Mensch da außer mir. Trotzdem hätte ich schwören können, dass da jemand steht. Obwohl ich niemanden sah, wusste ich, da steht ein Mann. Ich konnte sogar genau die Stelle fühlen, an der er stand. Und dann hörte ich ihn. Sämtliche Haare standen mir zu Berge. Ich packte hastig meine Sachen zusammen und fuhr nachhause, als seien Furien hinter mir her.
Am nächsten Tag fiel mir zum ersten Mal auf, dass mich schon am frühen Morgen, sobald ich meine kleine Baustelle betrat, das unwiderstehliche Bedürfnis überkam zu rauchen. Nun gibt es sicher viele Gründe, während einer hektischen Lebensphase zum Kettenraucher zu werden, aber ich rauchte schon seit vielen Jahren nur noch abends und vor dem Frühstück sowieso nicht. Hier, in diesem Haus, musste ich rauchen. Zwei, drei Tage wartete ich, ob sich der unsichtbare Mann wieder bemerkbar machen würde, aber obwohl ich ahnte, dass er noch irgendwo war, konnte ich ihn nicht mehr orten. Ich war im Begriff, die Erscheinung zu vergessen. Sicher hatte ich mir alles nur eingebildet. Dann, es war später Nachmittag und taghell, war er plötzlich wieder ganz da, ganz präsent. Und wie schon bei unserer ersten Begegnung ‚hörte’ ich ihn. Ich hörte buchstäblich, welche Gedanken ihn seit dem Moment seines Todes bewegten. Ich fühlte, was ihn hier festhielt, warum er das Haus seit seinem Tod Ende der Sechziger Jahre nicht verlassen konnte. Mit einem Mal war ich mir ganz sicher, dass er der Mann war, der dieses Haus geplant und gebaut hatte, der hier mit seiner Familie leben wollte, so wie auch ich mit meiner Mini-Familie hier leben wollte. Der Mann, der viele Jahre Kette geraucht hatte. Der Mann, der hier in diesem Haus einen Herzinfarkt erlitt und starb.
Wieso habe ich die Begegnung mit dem Geist, den ich ab jetzt Luis nennen werde, im Großen und Ganzen ziemlich gelassen genommen? Erstens hat mein Liebeskummer mich mehr gebeutelt als ein Dutzend Geister das hinbekommen hätten. Zweitens gab es nicht nur mit meiner Exfreundin, sondern auch mit meinem Architekten atmosphärische Störungen in der Kommunikation und die ganze Planung des Hausumbaus lag allein bei mir. Und drittens, wenn ich bei Luis schon die Nerven verloren hätte, hätte ich alles, was nach Luis kam, schon gar nicht ausgehalten. Und das wäre ein echter Jammer gewesen.
Natürlich überkamen mich in den folgenden Wochen immer wieder Zweifel, ob ich mir den ganzen Hausgeist nicht nur einbildete. Vor ein paar Jahren hatte ich ein Buch von James van Praagh gelesen, einem weltweit bekannten Medium, aber Geistwesen in einem Buch haben doch eine völlig andere Wirkung als Geistwesen im Wohnzimmer. Ich weihte Anja ein, mittlerweile hatten wir einen freundlichen Waffenstillstand miteinander erreicht. Wann immer Anja auf die Baustelle kam um mir zu helfen, suchte sie nach Luis. Sie hat ihn jedes Mal auf Anhieb gefunden. Heute wissen wir, dass sie auch über Fähigkeiten verfügt, die andere Menschen vielleicht als übersinnlich bezeichnen würden. Letztes Jahr haben wir uns mit dem Wieso und Warum nicht beschäftigt, wir hatten andere Dinge im Kopf. Aber mir wurde immer klarer, dass Luis und ich keine Wohngemeinschaft auf Dauer würden bilden können, dazu war er einfach zu unglücklich.
An manchen Tagen war er besonders schlecht gestimmt. Für mich sah dann das ganze Zimmer, in dem er sich aufhielt, braun eingefärbt aus, düster und beklemmend. Sogar die Luft schien braun zu sein. Es war mir unmöglich, in dem Zimmer zu arbeiten, die bedrückende Atmosphäre schnürte mir den Brustkorb zu. Manchmal hat er seinen Aufenthaltsort gewechselt, manchmal ist er einen ganzen Tag in einem Zimmer geblieben. Wenn ihm die Arbeiten im Haus zusetzten, zog er sich oft in den Keller zurück und kam erst wieder nach oben, wenn alle Handwerker weg waren. Es gab auch Tage, wo es Luis schlichtweg zu viel wurde. Dann konnte es passieren, dass Anja zu mir kam und sagte: Ich glaube, Luis reicht es jetzt. Wir hatten dann beide das Gefühl, er wollte alleine sein. Die vielen Veränderungen in seinem Haus – ich hatte unter anderem zwei Wände herausnehmen lassen und das Badezimmer komplett erneuert – machten ihm manchmal schwer zu schaffen. Ich sah mir die Originalpläne an, die Luis mit seinem Architekten damals über Jahre hinweg entwickelt hatte, und konnte ihn sogar verstehen. Andererseits konnte ja wohl niemand ernsthaft erwarten, dass ich mich bei dem Ausbau meines Hauses an dem Geschmack eines Hausgeistes orientierte, oder? Es blieb jedoch dabei: Wenn Luis keine Lust mehr hatte, konnten wir nur noch unsere Sachen nehmen und gehen. Die Stimmung wurde dann schnell ziemlich unerträglich.
Ich fing an, vorsichtig im Bekanntenkreis herumzufragen, ob vielleicht jemand Erfahrungen mit Hausgeistern hätte. Schon bald hörte ich von einem Paar, welches in das Haus einer Frau gezogen war, die sich dort allmählich zu Tode getrunken hatte. Die neuen Besitzer wunderten sich sehr, als es sie schon morgens zum Frühstück nach Alkohol dürstete. Mit einer Räucherzeremonie und spiritueller Musik hatten sie den Geist der Frau nach und nach zum Auszug bewegt. Ob es am unterschiedlichen Musikgeschmack lag oder an den Räucherstäbchen wurde nie geklärt. Ich dachte an Luis, an meinen sprunghaft gestiegenen Zigarettenkonsum und hatte das Gefühl, dass er etwas mehr Hilfe brauchen würde als Räucherwerk und Kerzen.
Mit Musik ließ sich Luis bedrückte Stimmung manchmal heben. Ich tanze seit ein paar Jahren jeden Tag, meistens ganz alleine für mich. In Anwesenheit eines Hausgeistes zu tanzen war eine völlig neue Erfahrung, aber es hat Spaß gemacht. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass Luis sich auch ein bisschen bewegte. Shakira sang ‚Whenever’, dazu fegte ich über das schöne alte Eichenparkett und freute mich, wenn ich fühlte, dass ich Luis mit meiner Freude erreichen konnte. Ohne es zu wissen, hatte ich mit der Bewegung und der Musik eine Sprache gewählt, die von allem Leben verstanden wird.
Die Renovierungsarbeiten gingen gut voran und ein anderer Charakterzug von Luis zeigte sich immer deutlicher. Er war sehr ordentlich. Ich bin nicht sehr ordentlich. Wenn ich heute durch mein Haus gehe und mich daran freue, wie wunderbar sorgfältig vor den Maler- und Lackierarbeiten alles abgeklebt worden ist, dann verdanke ich das in erster Linie Luis. Jedes Mal, wenn ich in Versuchung war zu schludern, hat er mich mit einem heftigen Unwillen umfangen, der sich immer weiter steigerte, bis ich nachgegeben und die schlampig abgeklebte Stelle neu gemacht habe. Dann strahlte er eine große Befriedigung aus. Obwohl ich die Kredite abzahlte, war für ihn das Haus offensichtlich immer noch vor allem sein Haus. Meine Baustelle war dank Luis immer picobello gekehrt. Bis heute kann ich das Geländer zum Souterain nicht ansehen, ohne mich daran zu erinnern, wie ich die weißen Stäbe auch morgens um zwei noch in Zeitlupe lackiert habe. Luis war mit meiner Arbeit hochzufrieden. Ich weiß nicht, ob erdgebundene Geistwesen ebenso wie Menschen schlafen, Luis hat meine Nachtschichten jedenfalls immer mit mir geteilt.
Zum Glück war Luis diskret. Wenn es abends spät wurde und ich im Schlafsack auf der Baustelle nächtigte, blieb er nie im gleichen Zimmer. Im Schlafzimmer und auch beim Duschen hat Luis mich nie besucht, und dafür war ich ihm sehr dankbar. Zwar habe ich mich zu keiner Zeit wirklich vor ihm gefürchtet, aber mich nackt vor einem fremden Mann ausziehen, auch wenn er unsichtbar war und tot obendrein, das wollte ich dann auch nicht. So sah ich dem Ende der Bauarbeiten und meinem nahenden Umzug ins neue Heim gelassen entgegen, was Luis betraf. Die Erinnerungen, die an meinem alten Zuhause hafteten, belasteten mich mehr als die Anwesenheit von Luis. Ich war vor allem froh, aus dem alten Haus heraus zu kommen und wollte mich der Luis-Frage erst wieder widmen, wenn ich meine Siebensachen von dort nach hier bewegt hatte.
Ich zog also um und Luis zog auch um – in die Waschküche. Wahrscheinlich fühlte er sich dort am wohlsten, weil die Waschküche der einzige Raum war, der von der Renovierung fast vollkommen unberührt geblieben war. Sein Gefühlsrepertoire, welches ja nach wie vor unser Hauptverständigungsmittel war, erweiterte sich um ein weiteres Gefühl: er schmollte. Ziemlich bald wurde die schlechte Stimmung in meiner Waschküche auch für mich bedrückend. Manchmal saß ich abends vor meinem Fernseher, erholte mich von den Strapazen der letzen Monate und fühlte Luis vom Keller hoch schmollend und verzweifelt. Ich fühlte ihn im Keller. Das war eine neue Entwicklung, denn bisher fühlte ich ihn nur so deutlich, wenn ich näher bei ihm war. Aus mir nicht bekannten Gründen strengte mich seine Anwesenheit so mehr an. Entnervt stellte ich mich eines abends in den Flur und rief zu ihm herunter, er möge doch bitte wieder nach oben kommen und mir Gesellschaft leisten. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Diese Geschichte nahm immer absurdere Züge an. Wie auch immer, nach einer Weile kam Luis ins Wohnzimmer und ich glaube, wir fühlten uns beide so besser.
Nach wie vor verstand ich Luis hauptsächlich über seine Gefühle, die ich von ihm aufschnappte, aber ich konnte ihn auch ‚hören’. Manchmal waren es nur Worte, mal halbe Sätze, dann Worte kombiniert mit Bildern oder Gefühlen. Ohne seine Einwilligung möchte ich nicht preisgeben, was er gesagt hat. Ich war in diesem Fall nur das Medium, ein Mensch, der ihn auf seine eigene limitierte Weise verstehen konnte. Ein Teil seiner Botschaften war nicht an mich persönlich gerichtet und ich werde sie in meinem Herzen bewahren, bis sie eines Tages ihre Empfänger erreichen. Sein vorherrschendes Gefühl schien eine große Ratlosigkeit über seinen Zustand zu sein. Manchmal wirkte er regelrecht verzweifelt über seine scheinbar aussichtslose Lage. Obwohl mir jede Erfahrung mit Hausgeistern fehlte, hatte ich großes Mitgefühl mit ihm. Es schien mir nicht richtig, wie er so einsam zwischen den Welten geisterte. Ein Freund brachte Luis Situation auf den Punkt. ‚Der war jetzt wirklich lange genug auf dem falschen Dampfer.’
Es ist mir sehr schwer gefallen, einige von meinen Freunden ins Vertrauen zu ziehen. Ich hatte die Befürchtung, man würde mich für überspannt oder schlicht für verrückt halten. Es gab Momente, wo ich selbst an mir zweifelte. Dann wieder war der Kontakt zu Luis so klar, so eindeutig, dass ich meine Zweifel nicht aufrecht erhalten konnte. Meine Sorge war zum Glück unbegründet. Die wenigen Menschen, denen ich von Luis erzählte, haben mir geglaubt und wenn mich jemand für überspannt hielt, hat er es für sich behalten. Und bald gab es eine Wendung, die mich damals ziemlich verblüffte. Meine Freundin Ulli berichtete mir von einem Freund, der schon hellsichtig geboren worden sei. Dieser Freund habe schon vielen Geistwesen im wahrsten Sinne des Wortes heimgeleuchtet und sei sicher auch bereit, mit meinem zu reden. Ein paar Tage später gab sie mir seine Handynummer durch und noch am gleichen Abend rief ich Broder an.
Luis merkte augenblicklich, dass ich jemanden an der Strippe hatte, der ihn verstehen konnte. Er sauste förmlich herbei und ich hatte das Gefühl, er hopste vor lauter Aufregung auf und ab. Sein aufgewühlter Zustand sprang so stark auf mich über, dass ich nicht nur meine Stimme, sondern auch meinen rechten Arm kaum noch beherrschen konnte und mir mit dem Telefonhörer beinahe selbst den Schädel einschlug. Broder erklärte mir, dass er solche Sitzungen normalerweise auch über das Telefon erledigen kann, aber in meinem Fall hatte er das Gefühl, es sei besser, wenn wir uns verabreden. Wir machten einen Termin für die folgende Woche aus. Noch eine Woche, so stellte ich mir vor, dann wäre Luis endlich frei und der Spuk vorüber. Ich würde mich alleine in meinem wunderhübschen Haus ausbreiten und mich wieder den wirklich wichtigen Themen des Lebens zuwenden. Meine gescheiterte Lebensgemeinschaft verarbeiten, zum Beispiel. Einen neuen Drehbuchauftrag an Land ziehen und endlich wieder Geld verdienen. Alles sollte wieder normal werden, bitteschön. Aber das wurde es nicht.
Broder, ich und Luis waren für sechs Uhr abends verabredet. Ich war schon seit dem Frühstück aufgeregt und unglaublich gespannt. Würde Broder die Dinge, die ich von Luis erfahren hatte, ebenfalls hören? Obwohl ich nicht glaubte, dass ich Luis völlig falsch verstanden haben könnte, hielt ich es trotzdem für möglich. Eine Stunde vor dem vereinbarten Termin rief Broder an um zu sagen, er sei bereits im Auto und auf dem Weg. Luis regte sich furchtbar auf. Ich konnte nicht anders, ich lief wie angestochen durch mein Haus. Von Zimmer zu Zimmer, hin und her, auf und ab. Ich begann zu keuchen. Schließlich wurde mir mein eigenes Herzrasen unheimlich und ich beschloss, im Garten auf Broder zu warten. Man stelle sich das mal vor, Broder hätte bei seiner Ankunft zwar keinen Menschen, aber dafür gleich zwei Geistwesen angetroffen. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. Im Garten konnte ich Luis nicht mehr so intensiv fühlen und mich wieder beruhigen.
Ich hatte keine Ahnung, was mich in der Sitzung mit Broder erwarten würde. Vielleicht auch Kerzen und Räucherwerk? Musik? Gebete? Ich war vor allem furchtbar neugierig und im Übrigen auf alles gefasst. Nur nicht auf das, was dann passierte. Dabei war der Anfang denkbar unspektakulär. Broder war mir sofort so vertraut, als würden wir uns schon ewig kennen. Wir tranken ein Glas Wasser und ich schilderte noch mal kurz die Situation mit Luis. Dabei konnte ich Broder ansehen, dass ich eigentlich gar nichts mehr sagen musste, er hatte Luis schon längst auf dem Schirm. Nach ein paar Minuten haben wir uns jeder auf ein Sofa gesetzt und Broder schloss einfach die Augen. Das erste, was er sah, war ein Luis, der völlig aufgebracht im ganzen Haus herum rannte.
Es gibt Geistwesen, die über einen längeren Zeitraum nicht begreifen, dass sie tot sind. Luis gehörte nicht zu ihnen. Er wusste, dass er seinen Körper verlassen hatte und dass ihn die meisten Menschen deshalb weder hören noch sehen konnten. Und auch für Luis waren, wie für jeden Menschen, nach seinem physischen Tod Engel gekommen, die ihn hinüber begleiten wollten in das andere Reich. Nur dass Luis sich geweigert hatte mitzugehen. Luis schilderte sich selbst als einen sehr rationalen Menschen. Zu Lebzeiten hatte er nie in Betracht gezogen, dass es nach dem Tod irgendwie weitergehen könnte. Nun war er tot, und er glaubte immer noch nicht daran. Immer wieder haben die Engel über die Jahre versucht, Luis zu erreichen. Und immer wieder hat er sie abgewehrt. Luis schilderte noch einmal, was ich in den letzten Wochen bereits von ihm aufgefangen hatte, und Broder dolmetschte. Ich fühlte, wie sich etwas im Raum veränderte. Eine leichte, eine sehr helle Präsenz hatte mein Wohnzimmer betreten. Broder sagte, die Engel seien jetzt wieder da, um Luis zu begleiten. Immer stärker begann die Liebe in mein Wohnzimmer zu strahlen und ich konnte nur noch staunen, nur noch staunen. Er zögert, beschrieb Broder Luis Zustand, er traut sich noch nicht. Broder sprach hinter den Kulissen mit Luis. Ein Ruck ging durch mein Herz und es wurde noch heller im Zimmer. Luis hatte zugelassen, dass die Engel ihn mit ihren Strahlen berührten. Mitten in meinem Wohnzimmer ging die Sonne auf. So wie ich vorher seine Verzweiflung gefühlt hatte, fühlte ich jetzt die Liebe, die Luis zu durchfluten begann. Broder fragte ihn, ob er noch etwas zu mir sagen wollte, ehe er geht. Sag ihr, dass ich sie liebe, sagte Luis. Und dann lachte Broder, weil Luis so verdutzt war über sich selbst. Die Engel haben Luis in die Mitte genommen und zusammen sind sie gegangen.
Ich putzte mir die Nase. Luis Reise ins Licht hatte mich tief bewegt. In diesem Moment liebte ich ihn auch. Ich war voller Staunen über das Abenteuer, welches wir zusammen erlebt hatten. Die Sitzung wäre jetzt eigentlich zu Ende gewesen. Broder hatte immer noch die Augen geschlossen. Auf einmal wurde mir gleichzeitig heiß und kalt. Es war noch jemand gekommen. ‚Hier steht jemand’, sagte Broder. ‚Er ist derjenige, der uns heute hier zusammengebracht hat.’